Prioritäten
- Gerald Schneider
- 2. Jan. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Jan. 2022
Als Journalist einer Provinzzeitung kommt man manchmal in die große weite Welt hinaus. Hin und wieder gibt es Politiker aus der Region, die was werden und die dann für das Wählerpublikum zu Hause ab und an gerne eine Geschichte in der Heimatzeitung sehen die sagt: Schaut her, was ich so alles tue, für Euch zu Hause und darüber hinaus. Das alles gehört zum Spiel dazu. Die investigativ recherchierten harten Geschichten sind das nie. Solche Reisen bieten aber die Gelegenheit, einen Politiker mal über etwas längere Zeit für sich zu haben, auch außerhalb der ständigen politischen Inszenierung. Sie bieten Gelegenheiten zu ausführlicheren und manchmal auch tieferen Gesprächen - über Hintergründe, Einschätzungen, neue Entwicklungen und Themen, auch allerlei Klatsch und Tratsch und manchmal Aufhänger für neue Geschichten. Und sie geben einem selbst Gelegenheit zum Tapetenwechsel. Mal raus aus der Redaktion, mal was anderes sehen, mal wieder den eigenen Horizont neu justieren.
So ergibt es sich, dass ein lokaler Europapolitiker mit Drang zu Höherem, immer wieder durch Europa tingelt, um Schwesterparteien zu besuchen, wichtige Leute zu treffen, den eigenen Namen zwischen Portugal und Polen, Malmö und Malta bekannter zu machen. Ständig ist er unterwegs. Heute Brüssel, morgen Helsinki, übermorgen Athen, drei Tage später Tallinn und dann Lissabon. Und einmal für zwei Tage Rom. Er reist mit kleiner Delegation: Sein Sprecher und enger Vertrauter, zwei Mitarbeiter seiner Fraktion im Europaparlament, hinzu kamen zwei Mitarbeiter der Parteiorganisation vor Ort - und ich, der Provinzjournalist von der Heimatzeitung, der sich damals um die Ressorts Politik und Wirtschaft kümmert und jetzt mal mit ansehen darf, wie man als wichtiger Europapolitiker so seine Tage verbringt.
Termine gibt es einige. Vom Hotel direkt am Pantheon führt der Weg zum italienischen Innenministerium - ein Bau mit bewegter faschistischer Vergangenheit, er führt in den Vatikan, um dort einen wichtigen deutschen Kardinal zu treffen, er führt zu einer großen italienischen Zeitung zum Interview, er führt zum Stadtpalast von Silvio Berlusconi wo ein gemeinsames Essen die Beziehung zu dessen Partei vertiefen sollte - mehrere Gänge, alles immer in den Nationalfarben grün, weiß und rot gehalten, wie berichtet wurde, und der Weg führt zum Bürgermeister von Rom.
Also eigentlich nicht zum Bürgermeister, denn der war gerade zurückgetreten (worden) wegen irgendwas. Aber es gibt ein Interims-Stadtoberhaupt, das in den repräsentativen Amtsräumen am Kapitol residiert. Ein freundlicher älterer Herr, grauer Haarkranz, hager, klein, in super geschnittenen italienischen Anzug und mit dicker, qualmender Zigarre in der Hand. Er heißt uns alle herzlich willkommen, erklärt ein paar Worte zu den Räumen, der gegenwärtigen politischen Situation in seiner Stadt - und überhaupt fühle er und damit ganz Rom sich sehr geehrt vom Besuch eines so wichtigen, aufstrebenden Politikers, der sich hier die Ehre gibt. So geht es etwas hin und her mit den Freundlichkeiten - bis der freundliche ältere Interims-Bürgermeister einen kräftigen Zug aus der Zigarre nimmt und meint, er müsse uns leider alleine lassen, er habe jetzt Wichtigeres zu tun.
Wichtigeres? Nun, all das ist eine Frage der Perspektive: Ein hochrangiger europäischer Politiker, der zu Besuch kommt, ist per se wichtig. Für ein Stadtoberhaupt mag sich das aber anders darstellen: Lokalpolitik ist die Mutter aller Fragen, Probleme und Herausforderungen. Wer oder was in der großen weiten Welt wichtig ist, muss es erst mal mit ganz anderen Themen aufnehmen. In diesem Fall: ein drohender Streik der römischen Müllabfuhr. Dieses Problem hat der Interims-Bürgermeister zu lösen. Aber man könne gerne noch etwas bleiben, sich umsehen, seine Sekretärin stünde bei Fragen gerne bereit, jetzt aber Gracie, ciao, ciao - und weg ist er.
Der wichtige Europapolitiker und seine Entourage steht nun kurz etwas hilflos da, bis die Sekretärin übernahm. Aus dem Holz vertäfelten Amtszimmer schiebt sie die Besuchergruppe durch eine Tür in einen schmalen Raum, darin ein Besprechungstisch und an der Wand Schränke mit Glastür. Es sind aber keine gewöhnlichen Schränke. Bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich als große Humidore, gefüllt mit allerlei Zigarren. So wichtig ist dies wohl dem Interims-Bürgermeister von Rom, dass er nie auf ausreichend Nachschub in greifbarer Nähe verzichten will.
Und von diesem Raum wiederum führt eine Glastür auf einen Balkon. Nur ein paar Meter lang und so schmal, dass nur ein - zwei Leute darauf Platz finden. Jeder weiß: In Rom verbirgt sich hinter jeder Ecke eine Sensation. Die Stadt ertrinkt fast an Schönheit, Geschichte und Charakter. Doch die Aussicht von diesem Balkon hat es in sich, selbst für römische Verhältnisse: Der Sprichwörtliche Fensterplatz zum Forum Romanum. Das einstige Zentrum einer Weltmacht - Antike zum Anfassen: Senatsgebäude, der Triumphbogen des Septimius Severus, der Saturntempel - alles zu unseren Füßen.

Selbst der wichtige Europapolitiker greift zum Handy und zum Selfiemodus. Wichtig ist eben relativ. Auf einmal ist die große Politik in weiter Ferne. Jeder ist ganz bei sich und überwältigt, denn so war das nicht geplant - es ist viel besser. Und so hat es doch was gutes, dass der Herr Interims-Bürgermeister Wichtigeres zu tun hat. Ansonsten hätte die veranschlagte Zeit zum vertieften Austausch belangloser Freundlichkeiten gereicht. Und so beschert der kleinen Reisegruppe der drohende Streik der römischen Müllabfuhr den wohl weltbesten Blick auf eines der großen Weltwunder unserer Zeit. Gestreikt hat die römische Müllabfuhr damals übrigens doch nicht.
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