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Man lernt sich kennen

  • Autorenbild: Gerald Schneider
    Gerald Schneider
  • 2. Jan. 2022
  • 2 Min. Lesezeit

Die Kür des Journalismus ist der Lokaljournalismus. Ganz nah dran am Menschen. Hochwasser, Vereinsleben, Schicksale, Umgehungsstraßen, Neubaugebiete, Stadtrat, Intrigen. Jeder, der sich für den Journalistenberuf interessiert, sollte sich zuerst hier versuchen. Eine bessere Schule des Lebens gibt es kaum.

Auch ich unternahm so meine ersten beruflichen Gehversuche. Während des Studiums verdingte ich mich als freier Mitarbeiter einer Lokalzeitung. Einer meiner ersten Aufträge, nachdem mein Chef nach ein paar kleineren Geschichten erstes Vertrauen in mein Können gefasst hatte, ist die Eröffnung des Christkindlmarktes.

Ich bin bestens ausgerüstet. Kamera mit frisch geladenen Akkus, Blitz, Block, mehrere Stifte - man kann nie wissen - und jede Menge Motivation. Die Eröffnungsworte soll der Oberbürgermeister von einem Balkon aus an das Glühwein-dürstende Volk richten. Der Zugang zu diesem Balkon führt durch ein Kaufhaus. Den Weg dorthin finde schnell, einfach einer kleinen Schaar offiziell aussehender Leute hinterher. Die Rolltreppe hoch, dann einmal quer durch die Damenabteilung, durch eine Tür, dahinter ein muffiges Kabuff mit einem Sammelsurium von Dekoartikeln, Kleiderstangen zurückgelegten und vorbestellten Mänteln, Röcken, Blusen und allem Möglichen, was man sonst so in einem Bekleidungsgeschäft braucht.

Auch diverse Offizielle warteten dort auf den großen Auftritt. Da ich vom genauen Ablauf keine Ahnung habe schaute ich mich um. Da, in einer Ecke, steht ein freundlich dreinblickender Mann. Haarkranz um seine Glatze, dichter Schnauzbart. Ich wende mich an ihn, sage meinen Namen, von welcher Zeitung ich komme und frage ihn, wer er denn sei und was er denn hier tue.

"Mein Name ist Mailinger (Name geändert), ich bin hier der Oberbürgermeister und ich eröffne jetzt gleich den Christkindlmarkt." Dazu ein breites Grinsen. Er hat offenbar Mitleid mit dem völlig ahnungslosen Nachwuchs-Reporter.

Ok, nicht verunsichern lassen. Danach geht es dann so eine Art Hühnerleiter hinauf auf den Balkon. Dabei das Christkind, der Oberbürgermeister allerlei andere wichtige Menschen, ein paar Trompeter und ich.

Der Oberbürgermeister trägt seine kurze Ansprache vor, die Trompeter spielen ein besinnliches Lied, das Christkind mit goldenen Locken und weißem Gewand blickt huldvoll drein. Unten der Christkindlmarkt glitzert und funkelt schon vor sich hin. Die meisten Besucher halten die ersten Becher mit dampfendem Glühwein oder Punsch in den klammen Fingern. Der Duft von Bratwürsten zieht hinauf. Dann die offizielle Eröffnung.

Nun, ein paar Fotos habe ich im Kasten. Was der Mann da gesagt hat, das war irgendwie an mir vorübergegangen. Ich hatte ja zu tun - vor allem mit mir selbst. Doch der OB hat weiterhin Mitleid. Als alles vorüber war, steckt er mir das Manuskript seiner Ansprache zu - ein paar tiefschürfende Gedanken zu Weihnachten - und grinst noch breiter. Meine völlige Ahnungslosigkeit hatte ihn offenbar erheitert oder ihm vielleicht sogar imponiert.

Seither kannten wir uns, der OB und ich. Wer er denn sei, musste ich ihn seither nicht mehr fragen.


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