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Moderne Technik

  • Autorenbild: Gerald Schneider
    Gerald Schneider
  • 2. Jan. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 4. Jan. 2022

Der Fortschritt hats in sich. Immer wieder neues - ungeahnte Möglichkeiten. Die Welt wächst zusammen. Videokonferenzen über alle Kontinente hinweg - kein Problem. Was für Unternehmen längst Standard ist, hat auch das Familienleben verändert - vor allem dann, wenn die Mitglieder der Familie in aller Welt verstreut sind. Meiner Frau und mir hat das vor allem in der Anfangszeit unserer Beziehung sehr geholfen. Sie aus Brasilien, ich aus Deutschland - mal schnell übers Wochenende hinfahren, wie in anderen Fernbeziehungen, ist da ausgeschlossen. Gut also, dass es Skype und WhatsApp-Videochats gibt.

Wir können uns sehen, miteinander reden und uns so etwas näher fühlen als es die 10.000 Kilometer Luftlinie an sich erlauben oder gar verheißen würden. In Brasilien hat die Familie einen großen Stellenwert. Und so schauen im Videochat immer mal dieser oder jener kurz vorbei, um zu gucken, mit wem sich die Tochter, Schwester oder Tante da so abgibt. Zu ihnen gehört auch der damals jüngste der Familie - der Neffe meiner heutigen Frau. Ein drei Jahre alter freundlicher kleiner Kerl. Viel miteinander reden können wir nicht. Er versteht nur Portugiesisch, das ich nicht spreche. Aber winken, Grimassen schneiden und Furzgeräusche machen, das versteht er. Und findet es ganz lustig.

Wir kennen uns also - er, der Neffe und ich, und wir haben unsere Wege der Kommunikation miteinander gefunden. Via Skype und WhatsApp.

B

ei den reinen Videochats wollen es aber auch meine spätere Frau und ich nicht bewenden lassen. Mein Besuch in Brasilien steht an. Und damit auch das Kennenlernen der Familie. Die Inaugenscheinnahme. Wer ist dieser Typ? Was will der? Was macht ein Deutscher in Brasilien? Ist es dem ernst? Nun, ich spüre einen gewissen Druck. Frage immer wieder nach, ob es Bestimmtes zu beachten gilt. Lost in translation, Clash of cultures - das kann zu jeder Menge Missverständnissen führen.

Ich fühle mich einigermassen gut vorbereitet. Habe mir Gedanken über Geschenke gemacht, vor dem Kofferpacken noch die Sommerhemden gebügelt. Und schon bin ich da, nach zwölf Stunden Flug bin ich aus dem kalten Deutschland im tropischen Brasilien angekommen. Kurze Akklimatisierung - dann ist es soweit: Besuch bei der Familie. Vater, Mutter, Schwester, Nachbar, noch irgendwer, meine jetzige Frau - alle da, um zu gucken, wen die Tochter, Schwester, Freundin da so anschleppt.

Und da ist natürlich auch der Jüngste. Er fetzt auf einem Kinderfahrrad durch das Haus der Großeltern. Dann sieht er mich - den Typen, der winken und so gut Furzgeräusche machen kann. Und ganz plötzlich ist der fröhliche kleine Kerl wie versteinert. Er schaut mich an als stünde ein Monster aus einem Alptraum vor ihm. Er lässt mich nicht aus den Augen und bewegt sich in Zeitlupe rückwärts.

Ich bin mir keiner Schuld bewusst, hatte mich nach einem Geschenk für ihn erkundigt und dieses dabei, schaue freundlich - hilft aber nichts. Auch die Umstehenden sind irritiert: Was hat der Bub? Der Gringo hier hat doch noch gar nichts falsch gemacht?

Doch der Jüngste ist immer noch innerlich erstarrt. langsam, ganz langsam bewegt er sich immer weiter rückwärts, dorthin, wo er seine Mutter vermutet, die dort auf ihn wartet. Ohne den Blick von mir zu nehmen ergreift er ihre Hand. Nun auf etwas sichererem Terrain kann er wieder sprechen: “Mama, wie kann der da sein? Der wohnt doch im Telefon!”

Das war es also. Wie kann der große Mann, der sonst auf ein Handydisplay passt, auf einmal leibhaftig vor ihm stehen und Geschenke abliefern? Nach ein paar Sekunde fällt es dann von allen ab. Jetzt ist klar, was den Jüngsten so irritiert hat: Moderne Technik ist eben schwer zu durchschauen. Und in seiner kindlichen Logik hat er vollkommen recht. Wie kann das sein? Selbst unsereins versteht kaum, was da technisch alles passiert, wenn Bild und Tonsignale in Lichtgeschwindigkeit den Globus umrunden.

Seine Mutter lacht, um mich rum auch alle. Nur ich weiß noch nicht so recht, wie mir geschieht. Ich verstehe ja nichts. Hab ich was falsch gemacht? Der anderen Kultur unangemessen dreingeschaut? Verarscht der mich? Meine spätere Frau klärt auf. Dann wird es mir auch wieder wohler. Ich hatte nicht etwa den Jüngsten verschreckt und damit den Argwohn aller auf mich gezogen. Alles war ok. Und als man dem Jüngsten erklärt hatte, wieso ich doch da sein und das Telefon verlassen kann, taut auch er auf. Wenig später sitzt er auf meinen Schultern und genießt den Blick von oben auf die Dinge. Und im Videochat sehen wir uns gelegentlich bis heute. Und wenn ich zu Besuch komme gibt es auch keine versteinerten Mienen mehr.


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