Zeit ist Geld - manchmal
- Gerald Schneider
- 2. Jan. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Es gibt so Dinge im Leben, die sollen einfach schnell gehen. Zu sehr sind sie das Nebenbei des Lebens, als dass man sich damit lange aufhalten möchte. Zahnarztbesuche sind solche Gelegenheiten. Oder Verrichtungen bei irgendwelchen Ämtern. Viel Lebenszeit will man dafür in der Regel nicht opfern. Das gleiche gilt auch für das Anstehen an der Supermarktkasse. In Deutschland ist der Weg durch die Kasse längst optimiert. Länge und Geschwindigkeit des Kassenbands sind kein Zufall. Die Positionierung des Barcode-Scanners sowie des Zahlterminals ebenso wenig. Es geht Zack-zack. Wer weiß, dass er lange anstehen muss, kauft weniger oder seltener. Besonders manche Discounter-Ketten haben die Optimierung des Zahlvorgangs zu neuen Rekorden getrieben. Mit einschüchternder Geschwindigkeit zieht dort das Kassenpersonal die Artikel über den Scanner. Am anderen Ende kann man seine Einkäufe nur noch mit Schwung in den Einkaufswagen schmeißen.
So ist das aber längst nicht überall. Andernorts hat man noch Zeit. Oder nimmt sie sich einfach. Oder hat einfach nicht verstanden, worum es geht und was eigentlich gerade geboten wäre. Zeit ist doch Geld, heißt es. Dass nicht alle Länder über die technischen Möglichkeiten verfügen oder sie sich schlicht nicht leisten wollen, ist das eine. Dass man den Wert der Zeit, die Kunden einem beim Anstehen an der Kasse schenken doch irgendwie verstanden hat (beziehungsweise nicht), das andere. Der Aufenthalt an der Supermarktkasse kann jedenfalls dauern.
Und so gibt es in Brasilien zwar längst nicht überall Kassenbänder. Alles wird umständlich auf einer kleinen Ablage entlang geschoben. Aber es gibt auch den Express-Check-Out, die Expresskasse mit dem verheißungsvollen Namen “Caixa expresso”. Das ist die Kasse für Kunden, die wenige Artikel kaufen und es etwas eiliger haben. Mit nur ein paar Artikeln machen wir uns also auf in Richtung der Expresskasse. Da ist nicht viel los. Wir: Meine brasilianische Frau, deren brasilianische Freundin, die in der Nähe des Supermarktes wohnt und sowieso überall im Allgemeinen bekannt ist - in diesem Supermarkt im Besonderen -, deren nicht minder bekannter Sohn und ich.
Bekannt sind unsere lokalen brasilianischen Begleiter auch dem jungen Mann, der dort an der Kasse arbeitet. Ein Gruß und ein nettes Wort sind ja soweit ganz normal. Es geht aber besser. Nach einem ersten flüchtigen Gruß erkannt er offenbar die alten Bekannten vor sich. Sofort hebt er die Stimme um sich mit aller Freundlichkeit und Ausgiebigkeit seinen Premiumkunden zu widmen. Das reicht aber nicht. Er steht von seinem Kassenstuhl auf, reicht unserer Freundin aus der Nachbarschaft die Hand, um sie gebührend zu begrüßen. Nicht nur ein Hallo, guten Tag, sondern ein ganzer Sermon an Freundlichkeiten. Weiter geht es mit deren Sohn. Danach werden wir dem freundlichen Expresskassenkassierer vorgestellt. Mit Handschlag und allerlei netten Worten. Wer wir sind, was wir hier machen, dass wir verheiratet sind und in Deutschland leben und zu Besuch hier…
Dem Widmungszweck einer Expresskasse entspricht das nicht. Nur bin ich mir noch etwas unsicher, ob das Brasilianer ebenfalls so sehen oder ob das hier kulturell dazugehört. Einen Hinweis erhalte ich. Hinter uns an der Expresskasse hat sich ein Mann eingereiht, Glatze, mittleres Alter, erkennbarer Bierbauch und in seinem Einkaufswagen drei Paletten Dosenbier. In Brasilien ist Dosenbier nichts ungewöhnliches und es wird oft in Gebinden zu 20 oder mehr Dosen verkauft. Der Dosenbierkäufer - zumindest wollte er das sein - hat offenkundig was vor. Vielleicht ist er irgendwo zum Grillen eingeladen und soll für einen Teil der Getränke sorgen. Grillen (und dazu Bier trinken) ist nach Fußball der wichtigste brasilianische Nationalsport. Oder er will einfach einen entspannten Abend daheim verbringen. Wie auch immer: Auch er hat offenbar vom Konzept der Expresskasse eine andere Vorstellung. Erst recht als er andere Kunden, die sich zeitgleich mit ihm an einer Nicht-Expresskasse angestellt hatten, dabei beobachtet, wie sie den Laden nach dem Bezahlen ihrer Einkäufe bereits wieder verlassen.
“Ist das hier die Expresskasse?” fragt er mit unverkennbar genervten Unterton und laut genug, um nicht überhört zu werden. Eine Antwort erhält er nicht. Denn die Begrüßungsrunde dauerte noch an. “Wie gehts der Tochter? Was macht dieser und jener? Und das Wetter…” Langsam wird es mir unheimlich und als meine Frau ihr Lachen kaum mehr unterdrücken kann wird auch mir klar: Selbst für Brasilien ist das nicht normal. Unsere brasilianische Freundin schafft es dann doch irgendwie den freundlichen Eifer und Mitteilungsdrang des Expresskassenkassierers wieder in Richtung “kassieren” zu lenken. Als nächstes Thema wäre wahrscheinlich Fußball angestanden und da ist sie nicht sattelfest. Irgendwann ist dann gezahlt. Alleine das kann dauern. Denn auf den “Workflow” optimiert ist da nichts. Das Kartenlesegerät liegt grundsätzlich irgendwo, aber nie da, wo die zahlwilligen Kunden stehen und es wird immer ein Bezahlkartengefummel. Nach einer kleinen Ewigkeit können wir den Laden verlassen.
Ein paar Tage später - der Vorfall der Expresskasse hatte sich für alle längst erledigt - gehe ich alleine wieder zu diesem Supermarkt - ein paar Bier holen. Der Weg dorthin etwa drei oder vier Gehminuten - der Rückweg ebenso. Mehr als vielleicht 15 oder 20 Minuten sollte das alles also nicht dauern. Als ich nach fast einer Stunde noch immer nicht zurückkehre, wird es meiner Frau unheimlich. Habe ich mich verlaufen? Hatte ich einen Unfall? Bin ich Opfer eines Überfalls oder einer Entführung geworden? Alles Gedanken, die man sich in Brasilien durchaus machen kann. Nach etwa 70 Minuten schiebe ich die Tür zur Wohnung unserer Freundin auf und werde mit großer Erleichterung empfangen. So etwas habe ich nach einer schnöden Rückkehr aus dem Supermarkt nicht erwartet. Was denn da so lange gedauert hätte? Sie habe sich Sorgen gemacht! Auch so, ja, das wars. Nun ja - ich stand an der Expresskasse.
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